Betriebsübergangsrecht 2020 – Neue Interpretationsansätze von EuGH und BAG

Restrukturierungen haben Hochkonjunktur. Die Corona-Krise zwingt viele Unternehmen und Konzerne, ihre bestehenden Organisationskonzepte zu überdenken – sei es in der Produktion oder in der Verwaltung. Häufig werden zu diesem Zweck unrentable Betriebe oder Arbeitsbereiche abgestoßen oder zur Verbesserung der Wirtschaftlichkeit in spezialisierte Tochtergesellschaften ausgegliedert. Aus arbeitsrechtlicher Sicht stellen sich diese Maßnahmen typischerweise als Betriebsübergang dar. Die Rechtsprechung zu der einschlägigen Vorschrift in § 613a BGB befindet sich in ständiger Weiterentwicklung. Welche aktuellen Entscheidungen sollten Unternehmen kennen?

Im Grundsatz: Wann sprechen wir von einem Betriebsübergang?

Ein Betriebsübergang im Sinne von § 613a BGB liegt vor, wenn die von der Maßnahme betroffene Organisationseinheit

  • eine wirtschaftliche Einheit (Betrieb oder Betriebsteil) darstellt,
  • durch Rechtsgeschäft von einem Unternehmen (Veräußerer) auf ein anderes Unternehmen (Erwerber) übertragen wird, und
  • die Identität der übertragenen Einheit bei dem Erwerber dabei gewahrt bleibt.

Zur Beantwortung der Frage, ob eine wirtschaftliche Einheit identitätswahrend auf den Erwerber übergeht, unterscheiden der EuGH und das BAG regelmäßig zwischen sog. betriebsmittelarmen und betriebsmittelintensiven Organisationseinheiten:

  • Bei betriebsmittelarmen Betrieben liegt ein Betriebsübergang vor, wenn der nach Anzahl oder Fachkenntnissen wesentliche Teil des Personals von dem Erwerber übernommen wird.
  • Bei betriebsmittelintensiven ist die Übernahme der sächlichen Ressourcen entscheidend. Die Übernahme der Belegschaft ist „nur ein Kriterium unter anderen“, dem jedenfalls bei Nichtübernahme der sächlichen Mittel keine ausschlaggebende Bedeutung zukommen soll.

Der Umgang mit Mischbetrieben – Umdenken des 8. Senats?

Diese Rechtsprechung hat in der Praxis bei der Veräußerung von sogenannten „Mischbetrieben“ zu großen Unsicherheiten geführt, weil deren Identität sowohl durch die sächlichen Betriebsmittel als auch durch das Personal und seine Kenntnisse geprägt ist. Eine Abgrenzung nach dem Schema „entweder betriebsmittelarm oder betriebsmittelgeprägt“ kommt hier nicht in Betracht. Stattdessen bedarf es einer umfassenden Gesamtbetrachtung aller Prüfungskriterien nach dem sog. Sieben-Punkte-Katalog, ohne dass im Einzelfall Klarheit über die Gewichtung der Kriterien im Verhältnis zueinander herrscht.

In diesem Zusammenhang ließ die Entscheidung des seinerzeit gerade neu besetzten 8. Senats vom 25. August 2016 (8 AZR 53/15) aufhorchen. Obwohl der 8. Senat auch hier das Erfordernis einer Gesamtbewertung betont, konstatiert er, dass die in dem zugrunde liegenden Fall betroffene wirtschaftliche Einheit, ein Rettungsdienst, gleichermaßen durch das Rettungsdienstpersonal und die Einsatzfahrzeuge geprägt war. Beide betrieblichen Ressourcen, Rettungsdienstpersonal und Einsatzfahrzeuge, seien für die Durchführung des Rettungsdienstes unverzichtbar.

Die Schlussfolgerung des 8. Senats: In Mischbetrieben kommt es für einen Betriebsübergang nicht im Wesentlichen auf den Übergang der menschlichen Arbeitskraft an. Erforderlich ist vielmehr ein Übergang beider betrieblicher Ressourcen: Personal und sächliche Betriebsmittel. Ein Betriebsübergang ist nach dieser Rechtsprechung folgerichtig nicht gegeben, wenn es, wie in dem Fall des Rettungsdienstes, an dem Übergang von wesentlichen Betriebsmitteln fehlt.

Beim Rückgriff auf die Entscheidung des BAG ist – trotz spannender Gestaltungsspielräume für die Praxis – im Hinblick auf die neusten Aussagen des EuGH aber vorerst Zurückhaltung geboten. So hat der EuGH in seinem Urteil vom 27. Februar 2020 (C-298/18) in einem ähnlich gelagerten Fall einen Betriebsübergang bei einem typischen Mischbetrieb anders als das BAG bejaht. Der EuGH hat dabei klargestellt, dass ein Betriebsübergang bei der Übernahme der Gesamtheit von Arbeitnehmern auch dann vorliegen könne, wenn die prägenden Betriebsmittel (hier die Busse eines Busunternehmens) nicht mitübernommen werden.

Übergang von Arbeitsverhältnissen auf mehrere Erwerber?

In einer weiteren bemerkenswerten Entscheidung hat sich der EuGH im März 2020 außerdem erstmals zu der Möglichkeit geäußert, dass ein Arbeitsverhältnis im Rahmen eines Betriebsübergangs gleichzeitig auf mehrere Erwerber übergeht (EuGH 23. März 2020 – C-344/18).

Obwohl die Betriebsübergangsrichtlinie RL 2001/23/EG diesen Fall nicht ausdrücklich regele, müsse die Richtlinie auch hier Anwendung finden, um die Fortsetzung der Arbeitsverträge bei dem Erwerber in unveränderter Form sicherzustellen. Die Veräußerung einer wirtschaftlichen Einheit an mehrere Erwerber führe zu einer Aufspaltung von Arbeitsverhältnissen, und zwar dergestalt, dass die Rechte und Pflichten aus dem Arbeitsvertrag der Arbeitnehmer auf jeden Erwerber anteilig entsprechend der zuvor wahrgenommenen Aufgaben übergehen. Diese Rechtsfolge komme aber nur dann in Betracht, wenn die Aufspaltung möglich ist und keine Verschlechterung der Arbeitsbedingungen nach sich zieht.

Die Auswirkungen dieser kritikwürdigen Entscheidung für die Praxis sind bis zum Vorliegen einer belastbaren Instanzrechtsprechung der deutschen Arbeitsgerichte nicht absehbar. Unklar ist insbesondere, unter welchen Bedingungen von einer (faktischen) Möglichkeit zur Aufspaltung auszugehen ist. Die Aufspaltung eines Arbeitsverhältnisses würde im Ergebnis dazu führen, dass sich ein bisheriges Vollzeitarbeitsverhältnis – unter Umständen auch gegen den Willen des Arbeitnehmers – in mehrere Teilzeitarbeitsverhältnisse mit den Erwerberunternehmen wandeln würde. Neben dem dadurch neu zu definierenden Pflichtenkreis stellt sich unter anderem die Folgefrage nach der Aufteilung der geschuldeten Vergütung und der Verteilung der Wochenarbeitszeit.

AirBerlin Insolvenz – Sind Flugzeuge Betriebsteile?

Nicht immer eindeutig zu beantworten ist auch die Frage, ob die veräußerten Betriebsmittel überhaupt als wirtschaftliche Einheit im Sinne von § 613a BGB und der Betriebsübergangsrichtlinie qualifiziert werden können. Dies wird durch die unterschiedlichen Bewertungen des 6. Senats und des 8. Senats im Zusammenhang mit der Übernahme von einzelnen Flugzeugen, Strecken und Stationen der insolventen Airline AirBerlin durch eine andere Fluggesellschaft (sog. Wet-Lease) plakativ belegt.

Während der 8. Senat in seinem Urteil vom 27. Februar 2020 (8 AZR 215/19) noch bedeutsame Kriterien für das Vorliegen eines Betriebsübergangs als gegeben ansah, hat der 6. Senat in seinem Urteil im Mai 2020 betont, dass einzelne Flugzeuge nur sächliche Betriebsmittel, aber keine Betriebsteile seien (BAG 14. Mai 2020 – 6 AZR 235/19). Der Eigenschaft als Betriebsteil stehe das Fehlen einer auf Dauer angelegten, eigenständigen Arbeitsorganisation entgegen.

Weiterhin ungeklärt bleibt damit die vom 8. Senat aufgeworfene Frage, wie sich der Einsatz wechselnden bzw. rotierenden Personals auf die rechtliche Beurteilung ausgewirkt hätte. Obwohl es sich bei der Übernahme von Flugzeugen um einen Sonderfall handelt, kann dieser Aspekt auch in anderen Branchen relevant sein. Ob in vergleichbaren Situationen die Zuordnung eines bestimmten Personals für die Annahme einer wirtschaftlichen Einheit bzw. eines Betriebsteils erforderlich ist und – falls nein – welche Arbeitsverhältnisse in diesem Fall von dem Betriebsübergang betroffen sind, wird vom EuGH erst noch geklärt werden müssen.

Fazit

Das Betriebsübergangsrecht bleibt von großen Unsicherheiten geprägt. Die aktuelle Rechtsprechung von EuGH und BAG wirft mehr Fragen auf als sie beantwortet. Zu begrüßen ist lediglich die Tendenz des 8. Senats, sich bei der praktisch hochrelevanten Veräußerung von Mischbetrieben von den bisherigen starren Denkmustern zu entfernen. Allerdings müssen die neuen Denkansätze noch weiter konkretisiert werden. Klarere Leitlinien für die praktische Handhabung des Sieben-Punkte-Katalogs wären wünschenswert, sind aber auch in Zukunft kaum zu erwarten.

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