(Keine) Verjährung des Urlaubsanspruchs

Das Urlaubsrecht kommt nicht zur Ruhe. Seitdem der Europäische Gerichtshof (EuGH) und, daran anknüpfend, das Bundesarbeitgericht (BAG) in den Jahren 2018 und 2019 die sogenannten Mitwirkungsobliegenheiten von Arbeitgebern bei der Verwirklichung des Urlaubsanspruchs aus der Taufe gehoben haben, haben beide Gerichte ihre diesbezügliche Rechtsprechung fortlaufend weiterentwickelt und nuanciert. In einer aktuellen Entscheidung vom 20. Dezember 2022 hat das BAG klargestellt, dass der gesetzliche Anspruch eines Arbeitnehmers auf bezahlten Jahresurlaub der Verjährung unterliegt. Die Verjährungsfrist beginnt dabei erst am Ende des Kalenderjahres, in dem der Arbeitgeber seine Mitwirkungsobliegenheiten erfüllt hat. Arbeitnehmerrechte werden damit weiter gestärkt.

Die Hinweis- und Mitwirkungsobliegenheiten bei der Verwirklichung des Urlaubsanspruchs

Bis zur wegweisenden Entscheidung des EuGH im Jahr 2018 war der Arbeitnehmer im Wesentlichen dafür verantwortlich, den ihm zustehenden Urlaub innerhalb des jeweiligen Urlaubsjahres zu beantragen. Andernfalls musste er mit dem Verfall seines Urlaubs spätestens zum 31. März des Folgejahres bzw. bei Langzeiterkrankungen nach Ablauf von 15 Monaten rechnen. In Verzug geriet der Arbeitgeber demnach nur, wenn der Arbeitnehmer seinen Urlaubsanspruch rechtzeitig geltend gemacht und der Arbeitgeber ihn gleichwohl nicht gewährt hatte. Dann konnte der Arbeitnehmer auch nach den regulären Verfallsfristen sog. Ersatzurlaub beanspruchen, der bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses auch abzugelten war (so noch BAG Urt. v. 16. Mai 2017 – 9 AZR 572/16).

In seinem Urteil vom 06. November 2018 (Az. C-684/16) stellte der EuGH sodann jedoch klar, dass Art. 7 der EU-Richtlinie 2003/88 einer nationale Regelung entgensteht, nach der ein Arbeitnehmer, der im betreffenden Bezugszeitraum keinen Antrag auf Wahrnehmung seines Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub gestellt hat, am Ende des Bezugszeitraums die ihm gemäß diesen Bestimmungen für den Bezugszeitraum zustehenden Urlaubstage und entsprechend seinen Anspruch auf eine finanzielle Vergütung für den bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht genommenen Urlaub verliert, und zwar automatisch und ohne vorherige Prüfung, ob er vom Arbeitgeber zB durch angemessene Aufklärung tatsächlich in die Lage versetzt wurde, diesen Anspruch wahrzunehmen.

Im Klartext: Arbeitgeber sind verpflichtet, konkret und in völliger Transparenz dafür zu sorgen, dass der Arbeitnehmer tatsächlich in der Lage ist, seinen bezahlten Jahresurlaub zu nehmen, indem er ihn – erforderlichenfalls förmlich – auffordert, dies zu tun, und ihm klar und rechtzeitig mitteilt, dass der Urlaub, wenn er ihn nicht in Anspruch nimmt, am Ende des Bezugszeitraums oder eines zulässigen Übertragungszeitraums verfallen werde.

Kommt der Arbeitgeber den besonderen Mitwirkungspflichten nicht nach, tritt der Urlaubsanspruch des Arbeitnehmers zu dem am 01. Januar des Folgejahres neu entstehenden Urlaub dazu.

In der Folge griff das BAG diese Rechtsprechung auf und urteilte zwischenzeitlich mehrfach über verschiedene Konstellationen. Zuletzt hatte das BAG etwa klargestellt, dass Urlaub, der vor Beginn einer dauerhaften Arbeitsunfähigkeit entstanden ist, nur bei Erfüllung der Mitwirkungsobliegenheiten erlischt. Demgegenüber verfällt Urlaub, der erst während der Arbeitsunfähigkeit entsteht, weiterhin ohne Mitwirkungsobliegenheiten des Arbeitgebers nach Ablauf von 15 Monaten (siehe zuletzt BAG Urt. v. 20. Dezember 2022, Az. 9 AZR 245/19).

BAG: Der Urlaubsanspruch verjährt nicht automatisch!

In der aktuellen Entscheidung des BAG vom 20. Dezember 2022 (9 AZR 266/20) hat sich der 9. Senat nunmehr mit der Frage beschäftigt, ob sich eine Verletzung der Mitwirkungsobliegenheiten auch auf die Verjährung von Urlaubsansprüchen auswirkt.

Sachverhalt

Die Klägerin war vom 01. November 1996 bis zum 31. Juli 2017 bei dem Beklagten als Steuerfachangestellte und Bilanzbuchhalterin beschäftigt. Sie hatte im Kalenderjahr Anspruch auf 24 Arbeitstage Erholungsurlaub. Ihren gesetzlichen Mindesturlaub nahm die Klägerin aber wegen des regelmäßig hohen Arbeitsanfalls nicht vollständig in Anspruch. Der Beklagte hat die Klägerin weder aufgefordert, weiteren Urlaub zu nehmen, noch darauf hingewiesen, dass nicht beantragter Urlaub mit Ablauf des Kalenderjahres oder Übertragungszeitraums verfallen könne. Als die Klägerin im Jahr 2017 aus dem Arbeitsverhältnisses ausschied, verlangte sie die Abgeltung von 101 Urlaubstagen für die Zeit zwischen 2013 und 2017. Der Arbeitgeber vertrat die Auffassung, dass sämtliche Urlaubsansprüche verjährt seien.

Vorabentscheidungsverfahren und Ergebnis

In einem Vorabentscheidungsverfahren legte das BAG dem EuGH die Frage vor, ob das Unionsrecht die Verjährung des Urlaubsanspruchs nach Ablauf der regelmäßigen Verjährungsfrist gemäß §§ 194, 195 BGB gestattet, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer nicht durch entsprechende Aufforderung und Hinweise tatsächlich in die Lage versetzt hat, seinen Urlaubsanspruch auszuüben.

Daraufhin äußerte der EuGH in seiner Vorabentscheidung vom 22. September 2022 (Az. C-120/21) Zweifel an der Vereinbarkeit der in den §§ 194 ff. BGB vorgesehenen Verjährungsregeln mit Art  7 der Richtlinie 2003/88 und in Art. 31 Abs. 2 GRCh . Der Gesundheitsschutz des Arbeitnehmers überwiege gegenüber dem Zweck der Verjährung, Rechtssicherheit und Rechtsfrieden zu garantieren. Außerdem betonte der EuGH, dass der Arbeitnehmer als die schwächere Partei des Arbeitsvertrags anzusehen sei und der Arbeitgeber seinen Hinweis- und Mitwirkungspflichten für die Inanspruchnahme von Urlaub nachkommen müsse:

„Ließe man aber zu, dass sich der Arbeitgeber auf die Verjährung der Ansprüche des Arbeitnehmers berufen kann, ohne ihn tatsächlich in die Lage versetzt zu haben, diese Ansprüche wahrzunehmen, würde man unter diesen Umständen im Ergebnis ein Verhalten billigen, das zu einer unrechtmäßigen Bereicherung des Arbeitgebers führt und dem eigentlichen von Art. 31 Abs. 2 der Charta verfolgten Zweck, die Gesundheit des Arbeitnehmers zu schützen, zuwiderläuft.“

EuGH, Urt. v. 22. September 2022, Az. C-120/22, Rn. 52

Diese Vorgaben hat das BAG in seinem Urteil vom 20. Dezember 2022 (9 AZR 266/20) berücksichtigt.

Demnach finden bürgerlich-rechtlichen Vorschriften über die Verjährung auf den gesetzlichen Urlaubsanspruch Anwendung. Die regelmäßige Verjährungsfrist von drei Jahren beginnt nach dem BAG bei einer richtlinienkonformen Gesetzesauslegung aber erst mit dem Schluss des Jahres, in dem der Arbeitgeber den Arbeitnehmer seinen Mitwirkungsobliegenheiten nachgekommen ist und der Arbeitnehmer den Urlaub dennoch aus freien Stücken nicht genommen hat. Bei einer Verletzung seiner Mitwirkungsobliegenheiten muss der Arbeitgeber also unter Umständen ein unbeschränktes Ansammeln von Urlaubsansprüchen hinnehmen. Somit war der Urlaubsanspruch der Klägerin in dem vom BAG entschiedenen Fall nicht verjährt.

Verjährung der Urlaubsabgeltung

Zwischenzeitlich hat das BAG mit Urteil vom 31. Januar 2023 (9 AZR 456/20) auch klargestellt, dass der Anspruch auf Urlaubsabgeltung ebenfalls der dreijährigen Verjährung unterliegt. Die Verjährungsfrist für den Abgeltungsanspruch beginne in der Regel am Ende des Jahres, in dem der Arbeitnehmer aus dem Arbeitsverhältnis ausscheidet. Auf die Erfüllung der Mitwirkungsobliegenheiten kommt es dabei nicht an.

Fazit

Die Bedeutung der Mitwirkungspflichten des Arbeitgebers bei der Gewährung von Urlaub wird durch die aktuelle Rechtsprechung des EuGH und des BAG noch einmal gesteigert. Kommen Arbeitgeber ihrer Verpflichtung nicht ordnungsgemäß nach, droht ein böses Erwachen. Nicht gewährter Urlaub kann dann im Ergebnis grenzenlos angesammelt werden und bei der Beendigung von Arbeitsverhältnissen können unter Umständen hohe Summen als Urlaubsabgeltung verlangt werden.

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