Loyalitätsobliegenheiten der Kirchen im Wandel

Kirchliches Arbeitsrecht unter Druck

Das kirchliche Arbeitsrecht gerät zunehmend unter Druck – sowohl innerkirchlich als auch außerkirchlich. Innerkirchliche Antriebskraft ist vor allem die Anfang 2022 öffentlich in Erscheinung getretene Bewegung „#OutInChurch – Für eine Kirche ohne Angst“. Hierbei handelt es sich um eine Initiative von queeren und in der katholischen Kirche tätigen Mitarbeitern, die sich gegen die Ausgrenzung und arbeitsrechtliche Sanktionierung von Mitarbeitern aufgrund der sexuellen Orientierung einsetzen. Als außerkirchlicher Reformmotor erweist sich die Rechtsprechung. So hat der EuGH in den Rechtssachen „Egenberger“ und „IR“ die Grenzen des kirchlichen Arbeitsrechts neu gezogen. In diesen Entscheidungen hat sich der EuGH damit befasst, unter welchen Voraussetzungen Kirchen für Bewerber konfessionsgebundene Einstellungsvoraussetzungen (z.B. eine bestimmte Konfession oder eine Kirchenmitgliedschaft) sowie für Dienstnehmer konfessionsgebundene Loyalitätsobliegenheiten (z.B. Verbot des Kirchenaustritts) festlegen dürfen.

Die EuGH-Entscheidungen „Egenberger“ und „IR“

In der Rechtssache „Egenberger“ (17. April 2018 – C-414/16) bewarb sich die konfessionslose Frau Egenberger auf eine Referentenstelle beim Evangelischen Werk für Diakonie und Entwicklung. In der Stellenanzeige wurde die Mitgliedschaft einer evangelischen oder der ACK angehörenden Kirche gefordert. Frau Egenberger erhielt eine Absage.

Die Rechtssache „IR“ (11. September 2018 – C-68/17) ist einer von zahlreichen Akten des allseits bekannten Chefarzt-Falls. Ein katholischer Chefarzt eines von der Caritas betriebenen Krankenhauses heiratete nach seiner Scheidung eine Assistenzärztin. Er ging eine nach katholischem Glaubensverständnis ungültige Ehe ein. Dies wertete das Krankenhaus als schwerwiegenden Verstoß gegen die Loyalitätsobliegenheiten und sprach die Kündigung aus.

Der EuGH hob hervor, dass konfessionsdifferenzierende Einstellungsvoraussetzungen bzw. Loyalitätsobliegenheiten an sich eine Benachteiligung wegen der Religion darstellen. So ist die konfessionslose Frau Egenberger gegenüber Bewerbern benachteiligt, die der gewünschten evangelischen Kirche angehören. Die religionsbedingte Benachteiligung  des Chefarztes liegt darin, dass von ihm – aufgrund seines katholischen Glaubens – eine stärkere Bindung an die katholische Glaubens- und Sittenlehre eingefordert wurde als von den nichtkatholischen Chefärzten anderer Abteilungen.

Eine derartige Beachteilung kann aber gerechtfertigt sein. Insoweit dürfen Kirchen die Einstellung von Bewerbern bzw. die Kündigung von Dienstnehmern nur dann von der Konfession bzw. Kirchenmitgliedschaft abhängig machen, wenn dies nach der Art der Tätigkeit oder nach den Umständen ihrer Ausübung eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung angesichts des Ethos der betreffenden Kirche oder Organisation darstellt und zudem verhältnismäßig ist. Dabei stützt sich der EuGH auf Art. 4 Abs. 2 Richtlinie 2000/78/EG. Die berufliche Anforderung ist

  • wesentlich, wenn diese aufgrund der Bedeutung der beruflichen Tätigkeit für die Bekundung des Ethos notwendig erscheinen muss.
  • rechtmäßig, wenn mit dieser kein sachfremdes Ziel ohne Bezug zu diesem Ethos oder zur Kirchenautonomie verfolgt wird.
  • gerechtfertigt, wenn die Kirche einzelfallbezogen darlegen kann, dass die von ihr aufgestellte konfessionsdifferenzierende Verhaltensanforderung notwendig ist, weil ohne diese eine wahrscheinliche und erhebliche Gefahr einer Beeinträchtigung ihres Ethos oder ihres Rechts auf Autonomie besteht.
  • verhältnismäßig, wenn sie angemessen ist und nicht über das zur Erreichung des angestrebten Ziels Erforderliche hinausgeht.

Damit unterliegt das kirchliche Einstellungsrecht sowie das kirchliche Kündigungsrecht grundsätzlich den gleichen Zulässigkeitsvoraussetzungen. In den Rechtssachen „Egenberger“ und „IR“ ging der EuGH davon aus, dass die religionsspezifische Benachteiligung von Frau Egenberger sowie des Chefarztes nicht gerechtfertigt war. In beiden Fällen habe der Dienstgeber nicht ausreichend dargelegt, warum die konfessionsbezogene berufliche Anforderung notwendig ist.

Beispiele aus der Rechtsprechung: Wann sind Loyalitätsobliegenheiten erlaubt?

Arbeitsgerichte hatten bislang nur vereinzelt Gelegenheit, die Rechtsprechung des EuGH zu konkretisieren. Sie beschäftigten sich damit, ob Kirchen bei den folgenden Berufsgruppen konfessionsdifferenzierende Einstellungskriterien bzw. Loyalitätsobliegenheiten erlassen dürfen:

  • Sekretariatsstelle bei der Landeskirche

    In dem vom LAG Baden-Württemberg (13. April 2021 – 19 Sa 76/20) zu entscheidenden Fall verlangte die Landeskirche von den Bewerbern eine evangelische Konfession. Die Klägerin teilte bei ihrer Bewerbung mit, dass sie Atheistin sei, sich aber mit den Zielen der Landeskirche identifiziere. Ihre Bewerbung hatte keinen Erfolg. Darin sah sie eine Benachteiligung wegen ihrer Religion und klagte eine Entschädigung ein. Mit Erfolg: Das LAG Baden-Württemberg argumentierte, dass die Kirche von einem Sekretär bzw. einer Sekretärin keine bestimmte Konfession verlangen dürfe, da hierbei nur administrative und verwaltungstechnische Aufgaben im verkündigungsfernen Bereich anfielen.
  • Koch einer evangelischen Kindertagesstätte

    Der Koch wurde gekündigt, weil er aus der Kirche austrat. Darin sah der Dienstgeber einen schwerwiegenden Loyalitätsverstoß. Das LAG-Baden-Württemberg (10. Februar 2021 – 4 Sa 27/20) hielt die Kündigung für unwirksam. Zur Begründung führte es an, dass der Koch im verkündigungsfernen Bereich tätig sei und auch keinen unmittelbaren Beitrag zur Verwirklichung des Erziehungsauftrags der religiösen Bildung der in der Kita betreuten Kinder leiste.
  • Hebamme eines katholischen Krankenhauses

    Das Krankenhaus kündigte einer Hebamme aufgrund ihres Kirchenaustritts. Die Kündigung ist dem LAG Hamm (24. September 2020 – 18 Sa 210/20) zufolge wirksam, da die Tätigkeit der Hebamme für die Bekundung des Ethos der Kirche von besonderer Bedeutung sei. Die Hebamme sei unmittelbar an der Verwirklichung des karitativen Ziels der Krankenbehandlung und -pflege sowie des missionarischen Auftrags der Kirche beteiligt. Entscheidend sei, dass die Tätigkeit der Hebamme verkündigungsnah sei.

Bruch mit deutschem Verfassungsverständnis

Der EuGH hat mit beiden Entscheidungen mit dem deutschen Verfassungsverständnis gebrochen. Das BVerfG (22. Oktober 2014 – 2 BvR 661/12; 04. Juni 1985 – 2 BvR 1703/83 u.a.) hat in jahrzehntelanger und kirchenfreundlicher Rechtsprechung betont, dass Kirchen aufgrund ihres in Art. 137 Abs. 3 WRV i.V.m. Art. 140 GG garantierten Selbstbestimmungsrechts grundsätzlich selbst und frei von staatlicher Einmischung Loyalitätsobliegenheiten festlegen können. Ausreichend war, dass die betreffende Loyalitätsobliegenheit aus Sicht des kirchlichen Selbstverständnisses geboten war, etwa zum Schutz der kirchlichen Glaubwürdigkeit. Gerichte mussten die Vorgaben der Kirchen ihren Entscheidungen zugrunde legen. Das BVerfG ließ nur eine eingeschränkte Plausibilitätskontrolle durch staatliche (Arbeits-)Gerichte zu. Demgegenüber konstatiert der EuGH, dass konfessionsdifferenzierende Einstellungskriterien bzw. Loyalitätsobliegenheiten gerichtlich voll nachprüfbar seien. Gerichte dürften diese nur beachten, wenn sie wesentlich, rechtmäßig und gerechtfertigt seien. Loyalitätsobliegenheiten könnten nicht mehr unter dem alleinigen Gesichtspunk des kirchlichen Selbstverständnisses gerechtfertigt werden. Diese müssten vielmehr tätigkeitsbezogen gerechtfertigt werden, es müsse also ein direkter Zusammenhang zwischen der konkreten Tätigkeit und der konfessionsdifferenzierenden beruflichen Anforderung bestehen.

Hinzuweisen ist noch darauf, dass die strenge EuGH-Rechtsprechung nur für konfessionsdifferenzierende Loyalitätsobliegenheiten gilt. Knüpfen Loyalitätsobliegenheiten, an andere, d.h. nicht konfessionsbezogene Kriterien an, bildet weiterhin die kirchenfreundliche Rechtsprechung des BVerfG der Rechtmäßigkeitsmaßstab.

Auswirkungen auf die kirchliche Einstellungs- und Kündigungspraxis

Nicht allein das Selbstverständnis der Kirche, sondern die Nähe der Tätigkeit des Mitarbeiters zum Verkündigungsauftrag entscheidet darüber, ob Kirchen konfessionsdifferenzierende Einstellungskriterien bzw. Loyalitätsobliegenheiten aufstellen dürfen. Das ist die zentrale Konsequenz der EuGH-Entscheidungen. Derartige konfessionsbezogenen beruflichen Anforderungen können ausgehend von der EuGH-Rechtsprechung aber nicht damit begründet werden, dass jede Tätigkeit eines kirchlichen Dienstnehmers verkündigungsnah sei, weil dieser Teil der Dienstgemeinschaft sei. Die Integrität der Dienstgemeinschaft ist kein Grund, der eine Ungleichbehandlung wegen der Religion rechtfertigen kann. Dem verkündigungsnahen Bereich sind insbesondere Mitarbeiter im pastoralen, katechetischen und erzieherischen Dienst zuzurechnen. Nicht ohne weiteres zählen leitende Mitarbeiter dazu. Hinzukommen muss etwa, dass leitende Mitarbeiter einen erheblichen Beitrag zum Verkündigungsauftrag leisten oder sie die Kirche in wesentlichen Glaubensfragen nach außen vertreten. Schließlich ist als Folge der EuGH-Entscheidungen der Begründungsaufwand der Kirchen stark gestiegen: Sie müssen konkret und umfassend darlegen, warum für eine bestimmte Tätigkeit eine bestimmte Konfession oder Kirchenmitgliedschaft zwingend ist. Oberflächliche Begründungen wie der Hinweis auf den Leitgedanken der Dienstgemeinschaft genügen nicht.

Die EuGH-Rechtsprechung macht auch eine Reform der Grundordnung der katholischen Kirche notwendig. Diese ist in Teilen mit den Vorgaben des EuGH nicht vereinbar. Das betrifft etwa Art. 4 der Grundordnung: Danach hängt die Reichweite der den Mitarbeitern auferlegten Loyalitätsobliegenheiten von der Konfession und nicht von der Verkündigungsnähe der Tätigkeit ab. Die Reform der Grundordnung läuft derzeit auf Hochtouren und soll bald abgeschlossen sein. Mit der Neugestaltung der Grundordnung ist aber die Diskussion um die „richtigen“ Loyalitätsobliegenheiten keineswegs zu Ende.

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