Sonderkündigungsschutz von Schwangeren – endlich zeitgemäß (?)

Immer wieder aufs Neue müssen sich die Arbeitsgerichte aller Instanzen mit der Frage befassen, ab wann sich eine Mitarbeiterin auf den Sonderkündigungsschutz einer Schwangeren berufen kann. Die bisherige Rechtsprechung zur Frage, wann eine Frau schwanger ist, basierte dabei auf medizinisch unrichtigen Berechnungsmethoden. Das könnte sich jetzt ändern.

Die 280-Tage-Theorie des 2. Senats

Als das Bundesarbeitsgericht noch überwiegend mit männlichen Richtern besetzt war, wurde die 280-Tage-Theorie entwickelt und durch die Rechtsprechung des für Kündigungen zuständigen, zweiten Senats am Bundesarbeitsgericht zementiert (siehe zuletzt noch BAG Urt. v. 26. Mai 2015 – 2 AZR 237/14). Danach ist vom ärztlich festgestellten voraussichtlichen Entbindungstermin 280 Tage zurückzurechnen. Dieser Zeitraum umfasst die mittlere Schwangerschaftsdauer, die bei einem durchschnittlichen Menstruationszyklus 10 Lunarmonate zu je 28 Tage beträgt. Gerechnet wird vom ersten Tag der letzten Regelblutung. Das Bundesarbeitsgericht räumte in seinen Urteilen ein, dass mit dieser Berechnungsweise auch Tage in den Schutz einbezogen werden, in denen das Vorliegen einer Schwangerschaft eher unwahrscheinlich ist, da eine Befruchtung der Eizelle erst nach der Ovulation möglich ist, der durchschnittliche Zeitpunkt der Ovulation aber erst beim 12. bis 13. Zyklustag angenommen werden kann. Konsequenzen wurden aus dieser Erkenntnis jedoch nicht gezogen. Der Sonderkündigungsschutz von schwangeren Frauen wurde trotz dieser medizinisch mehr als zweifelhaften Vorgehensweise des Bundesarbeitsgerichts nahezu 40 Jahre kritiklos fortgeschrieben.

Berechnungsmethode des BAG auf dem Prüfstand

Jetzt scheint die Zeit der medizinischen Aufklärung auch in der Arbeitsgerichtsbarkeit angekommen zu sein, jedenfalls beim Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg. Mit Urteil vom 01. Dezember 2021 (Az. 4 Sa 32/21) wird den Bedenken Rechnung getragen und ausgeführt, dass der erste Tag der letzten Regelblutung nicht nur für den Beginn einer Schwangerschaft wenig wahrscheinlich, sondern extrem unwahrscheinlich ist und praktisch fast ausgeschlossen. Mit der bisherigen Berechnungsmethode – so das Landesarbeitsgericht – wird in die Grundrechte des Arbeitgebers in nicht zu rechtfertigender Weise eingegriffen. Das Landesarbeitsgericht hat sich mit der weiblichen Sachkunde des vorentscheidenden Arbeitsgerichts Heilbronn detailliert auseinandergesetzt und diese für zutreffend erklärt. Es wurde unter Hinweis auf die Größe des Embryos aufgrund von Ultraschallberechnungen der wahrscheinliche Entbindungstermin ermittelt und von diesem 266 Tage zurückgerechnet. Dies hatte zur Folge, dass die Mitarbeiterin im dortigen Verfahren sich nicht auf den Sonderkündigungsschutz nach § 17 MuSchG berufen konnte, was sie nach der Berechnungsmethode des Bundesarbeitsgerichts hätte tun können.

Ein wichtiges und richtungsweisendes Urteil des Landesarbeitsgerichts, das aber nicht nur aus medizinischer Sicht richtig ist, sondern auch dem Missbrauch vorbeugt. Missbrauch deshalb, da der mutmaßliche Entbindungstermin vom Arzt nach der 280-Tage-Regel festgelegt wird aber von der Angabe der Arbeitnehmerin abhängt, wann der erste Tag der letzten Regelblutung gewesen war. Die Arbeitnehmerin konnte so den Rückrechnungstag bestimmen.

Wie geht es weiter?

Die Revision ist zugelassen. Es ist zu erwarten, dass die im arbeitsgerichtlichen Verfahren unterlegene Arbeitnehmerin von diesem Rechtsmittel Gebrauch macht. Bleibt zu hoffen, dass auch der 2. Senat ein Einsehen hat und sich der Entscheidung des LAG Baden-Württemberg anschließt.

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